Stufen des Lebens
by
Fritz Schumacher
(Excerpts selected by Jochen Heisenberg)
Fritz Schumacher is the second of six children. His older brother Hermann is my Grandfather on my mothers side. Of the six children one died shortly after birth, only two, Hermann and Emmy got married. Fritz became a well known architect, known for his City-planning in Hamburg and Cologne. The book was printed 1934.
Am 15.Dezember 1839 wurde dem späteren Senator Doktor H.A.Schumacher und seiner Frau Johanne Elisabeth geb. Krüger in Bremen der älteste Sohn Hermann Albert geboren.
Seine Jugend fiel in die Wendezeit, wo das alte, in eigenen Bräuchen lebende Bremen zu einer neuen, weltverbundenen Zeit erwachte. Noch umgab ein feierlicher, schier mittelalterlicher Pomp alles, was zum Rat gehörte; wenn mein Grossvater, Bremens letzter lebenslänglicher Bürgermeister, zum Rathaus schritt, war das nicht möglich, ohne dass zwei rotbefrackte Diener ihm folgten, und seine Wahl wurde durch Massengelage, Umzug durch die Stadt und Spenden an das Volk gefeiert.
In seinem ganzen Wesen entwickelte sich [bei meinem Vater] eine frühe Aktivität und zugleich jener schwärmerische Zug, der entsprechend abgewandelt auch durch die Studentenzeit hindurchgeht und später mit jugendlicher Tatkraft gepaart seiner Natur stets als die “Idealität” eigen blieb, mit der er alles aufzufassen pflegte. Dieser Zug zeigte sich vor allem in künstlerischen Neigungen, die mehr und mehr hervortraten.
Nur zu bald kommt die Frage nach dem Berufsstudium und machte trotz der "goldenen Freiheit" der Studenetenzeit dieser geistigen Freiheit ein Ende. Auch an meinen Vater trat diese ernste Frage nach dem Abiturientenexamen heran; er wählte, mehr einer alten Familientradition, als der bewussten Neigung folgend, die Jurisprudenz als Ziel seines Studiums.
Es war am Todestage Alexander von Humboldts, als der neugebackene junge Student in Jena einzog. Der Professor, der damals in Jena und später in Berlin am mächtigsten durch die Kraft und Lebhaftigkeit seiner Persönlichkeit auf seine Zuhörer wirkte, war Johann Gustav Droysen, ein Mann, der es verstand, sein ganzes eigenes Wesen mit männlicher Begeisterung und männlicher Abneigung wiederklingen zu lassen in dem was er schilderte: “Ein Charakter durch und durch”, schrieb mein Vater, “und das ist doch die Hauptsache beim Historiker; was soll objektive Geschichtsschreibung; objektiv sein kann doch kein Mensch.” Der junge Student ergab sich, obgleich er die Jura als eigentliches Studium ausersehen hatte, ganz dem Banne dieser Persönlichkeit.
Er folgte seinem Lehrer im zweiten Semester nach Berlin, wo Droysen erst seine ganze Kraft entfaltete.
Schliesslich behielt in der Berufswahl die Jura doch die Oberhand, und als im Frühjahr 1861 die "alte Horde", wie Droysen sein Seminar nannte, nach allen Richtungen auseinanderstob, da siedelte auch mein Vater nach Göttingen über, um sich hier mit ganzer Kraft der Juristerei zu widmen.
So gingen die Tage dahin in Ernst und Scherz, und ehe er sich's versah, ward aus dem übermütigen Studenten ein würdiger Doctor utriusque juris. Dann kam die Examensarbeit für das Oberappelationsgericht in Lübeck, und nach wenigen Monaten konnte der junge Doktor es schwarz auf weiss lesen, dass er sich "für seinen künftigen Beruf vorzüglich gut vorbereitet habe".
Für welchen Beruf? Sollte er jetzt wirklich sofort in die Advokatur zu Bremen eintreten, zu der er berechtigt war? Sehr verschiedene Wege lagen ihm noch für die Zukunft offen; neben der praktischen Laufbahn winkte die theore-tische. Mein Vater neigte damals entschieden am meisten zum akademischen Beruf. Hier wollte er Jura und Geschichte miteinander in Wechselwirkung setzen, und so begab er sich denn vorerst noch einmal nach Berlin, um hier eine Reihe grösserer juristischer Arbeiten zu vollenden, unter denen ihn besonders eine rechtshistorische Abhandlung "Der Prozess Jesus Christus" interessierte. Die Arbeiten schwollen unter seiner Hand immer mehr an, und als er 1863 endlich doch nach Bremen übersiedelte und seine lebhafte Natur in den neuen Verhältnissen auf allen Seiten neue Aufgaben auf sich hereinstürmen sah, wurden sie überwuchert vom jüngeren Nachwuchs.
Die nächsten zehn Jahre in Bremen sind vielleicht die reichsten und glücklichsten in meines Vaters Leben gewesen. ..
Als Syndikus der Bremer Handelskammer konnte er in alle die Lebensfragen seiner Stadt, die den Handel betrafen, aktiv eingreifen. Hier kam er in nähere Berührung mit H.H.Meier, dem Mann, dessen Unternehmungsgeist durch Jahrzehnte der Entwicklung Bremens den Stempel aufgedrückt hat. Mit ihm zusammen rief er die "Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger" ins Leben, deren erster Sekretär er war und deren Organisation ihm im wesentlichen zu danken ist. Eine andere wichtige öffentliche Aufgabe sah er in dem Gedanken, Bremen einen grossen Volkspark zu schaffen. Man hatte den Mut, ein weites Wiesenterrain, die Bürgerweide, die dem deutschen Bundesschiessen gedient hatte, dafür auszuersehen. Mein Vater schrieb den Aufruf und leitete das Werbeamt, und so erstand in den sechziger Jahren der "Bremen Bürgerpark".
Um diese Zeit lernte er meine Mutter kennen. Im Freundinnenkreise seiner Schwester fiel ihm ein zierliches Mädchen auf, das an Lebhaftigkeit und Anmut vor den übrigen hervorstach. Therese Grote hiess sie, eine Waise, die das schwere Leben des unbemittelten elternlosen Kindes in fremden Häusern gekostet hatte und jetzt bei ihrem Onkel, der zugleich ihr Schwager war (er hatte die älteste der fünf Groteschen Schwestern geheiratet), liebevolle Aufnahme gefunden hatte.
In dem bescheidenen neuen Haushalt, der nun gegründet wurde, erschien am 6.März 1868 mein Bruder Hermann, und am 4.November 1869 folgte ich ihm nach.
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In meiner ersten Kinderzeit war aber vom Schicksal trefflich dafür gesorgt, dass die [Photographischen] Platten meiner Erinnerung ausgiebig gewechselt wurden. Schon Anfang 1872 wurde ich aus dem freundlichen Bremer Familienkreis herausgerissen, und es begann ein Wandern.
Mein Vater hatte an den mannigfachen Fragen eifrig mitgewirkt, welche die Umwandlung Deutschlands zum Reich auch der Bremer Handelskammer stellte. Jetzt hiess es, die gesamtdeutschen Interessen im Auslande zu festigen: die diplomatischen Vertretungen wurden umgestaltet und neue dazu gegründet. Es war unter anderem beschlossen worden, in Columbien eine neue Ministerresidentur zu schaffen, und dieser Posten wurde meinem Vater angeboten. Er galt als wichtig, denn man hegte grosse Pläne mit Columbien: man erwog, mit deutschem Kapital eine Eisenbahn über die Kordilleren nach der Haupttadt des Landes, Bogota, zu legen, denn man erwartete im Hinterland eine reiche Ausbeute für deutschen Handel. Diese Fragen und Aussichten sollten drüben studiert und das Feld vorbereitet werden für eine Tat deutschen Unternehmungsgeistes, die, wenn sie zustande kam, epochemachend werden konnte für die Ausdehnung des deutschen Einflusses in Südamerika. Dieser erste Eroberungszug für das neugeschaffene Reich reizte meinen Vater; er glaubte, den Ruf der Zeit zu hören, verliess die sichere Zukunft der Heimatstadt und zog mutig hinaus in das unbestimmte Feld einer grossdeutschen Tätigkeit. Er selber reiste allein voran, um auf fremden Boden die Stätte für seine Familie vorzubereiten, und meine Mutter folgte ein halbes Jahr später mit ihren Kindern, von denen das jüngste, meine inzwischen geborene Schwester Luise, noch nicht ein Jahr alt war.
Der damalige Kronprinz hat meinen Vater einmal, als er von den Leistungen meiner Mutter auf jenem Auszug hörte, gesagt: "Sagen Sie Ihrer Frau von einem alten Soldaten: Alle Achtung!" Und in der Tat, jene Reise mit drei kleinen Kindern war nicht leicht. Äussere Umstände wie der, dass mein Bruder unterwegs den Arm brach, der von einem Barbier an Bord falsch eingeschient wurde, und dass mein Vater, der uns in Baranquilla abholte, noch alle erschreckenden Spuren einer schweren Klimakrankheit zeigte, machten sie noch schwerer. Aber auch ohne diese Besonderheiten war es damals nicht einfach nach Santa Fe de Bogota zu kommen, denn an den entscheidenden Stellen waren die Transportmittel nicht viel anders geworden als damals im 16.Jahrhundert, wo die Welser ihren berühmten Zug über die Kordilleren machten auf der Suche nach "El Dorado".
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Die letzten heimatlichen Eindrücke knüpften sich an den kleinen Flussdampfer, der uns von Barranquilla aus vierzehn Tage lang den Magdalenenstrom herraufführen sollte. Er hiess nämlich "Bismarck", denn diese Dampferlinie war der Anfang der ins Auge gefassten deutschen Unternehmungen; aber trotz des grossen Namens muss der Betrieb, dem er diente, ziemlich bescheiden und südamerikanisch gewesen sein. Wir fuhren nur des Tages, denn im Dunkeln konnte man nicht wagen, zwischen all den Sandbänken der unregelmässigen Fahrstrasse hindurchzukommen; nachts lag also der kleine Raddampfer friedlich mitten im Urwald fest...
Dies schwimmende exotische Idyll endete in Honda. Von hier aus musste man fünf Tage zu Fuss oder auf Reittieren durch die Kordilleren nach Bogota reisen. Dieser Marsch muss einigermassen abenteuerlich gewesen sein.
Unsere Karawane wurde geführt von meinem Vater, dem sein Sekretär zur Seite ritt. Dann kam meine Mutter, auch zu Pferde, sie trug meine noch nicht einjährige Schwester in einem grossen Tuch, das über die Schulter gebunden war...
...denn in Wahrheit hatte ich damals nur einen Spielkameraden meines Kinderlebens: meinen Bruder. Alles taten wir zusammen wie gleichaltrige; er kommandierte, er war stets der General, ich der Gemeine, er war der Kutscher und ich das Pferd, aber mir fiel das folgen nicht schwer, und wir vertrugen uns prächtig. Das kleine Schwesterchen, das man Louisita nannte und das wir deshalb im abgekürzten Verfahren mit "Sita" bezeichneten, spielte noch nicht mit; es war einstweilen nur zum Ansehen da.
Lange hat dieser seltsame Aufenthalt in kulturfernem Lande nicht gedauert. Die Studien meines Vaters ergaben, dass ausser Chinarinde und Sma-ragden aus dem vielversprechenden Hinterlande von Bogota nicht genug für deutschen Handelsgeist zu holen war, um riesige Unternehmungen rechtfertigen zu können. Er riet ab von den Plänen des deutschen Kapitals, und da er damit eine wichtige Mission erfüllt hatte, wolte man seine Tatkraft und Umsicht an bedeutsamerer Stelle für das Reich ausnutzen: man bot ihm das Generalkonsulat in New York an, ein Posten, an dem damals vielleicht die wichtigsten und verwickeltsten Fäden der aktiven neudeutschen Auslandsarbeit durchein-anderliefen....
Für meine Mutter war es ein Segen, dass sie aus der welfernen Verbannung fortkam. Nicht nur durch den Tod lieber Angehöriger hatte sie schwere Tage in Bogota gehabt, sie konnte auch die dünne Luft der hohen Lage dieser Stadt nicht vertragen. So wird denn der Abschied nach zwei Jahren nicht hart gewesen sein....
Dann kam wieder der abenteuerliche Zug über die Kordilleren und die langsame Fahrt auf dem Magdalenenstrom. Schliesslich erschien uns allen der Dampfer, der uns in Barranquilla aufnahm, als erster hochwillkommener Zeuge europäischer Kultur.
In Colon trennten wir uns von unserem Vater, der nicht mit nach Bremen, sondern sofort nach New York reiste. Noch sehe ich, wie seine hohe Gestalt auf der kleinen Schaluppe, die sich immer mehr entfernte, zu unserem Schiff her-überwinkte, wie meine Mutter weinend die Brüstung umklammerte, und ohne dass ich recht begriff, um was es sich handelte, zog tiefes Weh zum erstenmal durch meine Brust.
Dennoch erscheint mir diese Fahrt nach Bremen als eine besonders schöne Erinnerung, teils weil höchst interessante exotische Tiere an Bord waren, von denen allerdings eine riesige Schlange, die aus ihrem Käfig entkam und nun unter jeder Bettdecke nicht ohne Grund erwartet werden konnte, sich einigermassen unliebsam bemerklich machte, teils weil ich augenscheinlich von der Schiffsgesellschaft unerhört verzogen wurde. Das muss sehr ausgiebig gewesen sein, denn als am Jahrestag von Wörth beim Mittagsmahl der Kapitän einen flammenden Toast auf den Kronprinzen ausbrachte und ich nebenan hörte, wie alles begeistert rief: "Unser Fritz soll leben!" erschien ich strahlend in der Tür des Speisesaals und war zum Gaudium aller Anwesenden fest davon überzeugt, dass der Jubel mir gegolten habe.
In Bremen wurde es mit diesem Verziehen wohl nicht viel besser.. und zum erstenmal musste ich mich wehren gegen die stürmischen Liebkosungen von niedlichen jungen Mädchen, die behaupteten meine Cousinen zu sein.
Das alles war reizend, aber bald hiess es wieder: An Bord! Wir fuhren einer neuen Heimat entgegen...
Am 8.Dezember 1874 fuhren wir in den Hafen von New York ein.
Mein Vater, der frühere Syndicus der Bremer Handelskammer, war mit allen Fasern seines Wesens mit freihändlerischen Gedanken verwurzelt, und wenn auch die entgegengesetzte Strömung, die jetzt einsetzte, die gewaltige Hand Bismarcks hinter sich hatte, so lag es nicht in seiner Art, sich solcher Kraft bedingungslos zu beugen. Seine Berichte liessen das wohl deutlich spüren, und je bedeutender sie in ihrer Art waren - sie haben aus manchem berufenen Munde dieses Urteil erfahren -, um so mehr verfinsterten sie bei Bismarck und seinem Sohne, der damals das Auswärtige Amt leitete, die Stimmung gegen den Warnergeist in New York. So leistete mein Vater einen Teil seiner grossen Arbeit sich selbst zum Leide.
Ein zweites Gebiet, auf dem es Schritt für Schritt zu kämpfen galt, fand er in der hmanitären Wirksamkeit seines Postens. Der Generalkonsul New Yorks hat nicht nur die dankbare Aufgabe, zahlreichen bedeutenden Männern, die beim ersten Gang im neuen Weltteil sein Arbeitszimmer ratsuchend betreten, nach Kräften beizustehen, daneben lag die äusserlich undankbare, viel grössere Aufgabe, die in diesen Jahren durch das Auswandererwesen Tausenden armer Land-leute gegenüber täglich an ihn heran trat. Hier gerade griff mein Vater mit unermüdlichem Eifer ein. Es lag in seinem Wesen, sich solchen Dingen weit über das Mass des Amtsnotwendigen zu widmen, und zahllos werden diejenigen sein, deren Lebensschiff er im entscheidenden Augenblick die ausschlaggebende Steuerrichtung gegeben hat.
Wenn er auf diesem Gebiet die Mittel zu noch weitergehendem Wirken erwünschte, tönte ihm wohl der kalte Ruf entgegen, der amtlich einmal in die Worte gefasst wurde: "Die neuen Sternen ihr Glück vertraut haben, mögen diesen folgen!" Er aber vermochte nicht in diesem Geiste zu leben, er suchte zu helfen, wo die Gelegenheit dazu hervortrat, wenn es auch an seinem Leben zehrte, dass all diese Ansprüche zu gewaltig waren, als dass ein Mensch sie hätte bewältigen können.
Neben diesen schweren Pflichten des Helfens standen die nicht minder schweren des Handelns. In all die schwierigen kriminalistischen Fälle, die von Deutschland nach Amerika hinüberspielen, musste das Generalkonsulat in ent-scheidender Weise eingreifen. Das gab oft die verwickeltste polizeiliche Tätigkeit voller Aufregung, eine Tätigkeit, die sogar bisweilen in die stillen Zimmer unseres Wohnhauses herübergriff. So erinnere ich mich, dass ich eines Sonntags in ein grosses Tribunal hereinplatzte, das in unserem Besuchszimmer stattfand, und das nur inszeniert wurde, um einen Millionendefraudanten da-rüber hinwegzutäuschen, dass man ihn nach amerikanischem Recht am Sonntag nicht verhaften konnte. Er wurde mit Wagenfahrten und Verhören einen ganzen Tag lang auf das zuvorkommendste unterhalten, bis man ihn um 12 Uhr nachts endlich festnehmen konnte. Zun Glück hatte er nicht geahnt, dass er vorher durchaus das Recht hatte, sich mit höflicher Verbeugung von seiner Umgebung zu verabschieden.
So spielte die grosse Welt des Generalkonsulats ab und an auch in unser Dasein mit herein. Im allgemeinen aber ahnten wir natürlich nichts vom eigentlichen beruflichen Leben unseres Vaters, sondern sahen ihn nur, wenn er sich in den kurzen Stunden der Rast in kindlicher Lustigkeit mit uns herumbalgte, oder des Sonntags einen Spaziergang in den Schönen Zentralpark mit uns machte. Ein ganz besonderes Fest war es dabei, wenn er mit einem von uns "ganz allein" spazieren ging. Bei solchen Gängen zog er alles, woran man vorbeikam, halb scherzend, halb belehrend in den Kreis der Gespräche; er verstand es, mit wenig Worten den Dingen Beziehungen zu geben, die in der kindlichen Phantasie haften blieben, und so wurde alles reich, was er leise streichend mit dem Finger berührte.
Wenn ich in jenen ersten New Yorker Jahren gefragt wäre, was mir in der Stadt besonderen Eindruck machte, hätte ich wahrscheinlich zuerst den Bau der Hochbahn in der Sixth Avenue genannt, dem ich mein ganz besonderes Interesse zuwandte. Dann wäre ein Besuch bei "Macy" gekommen, denn in diesem Wunderland eines richtigen Warenhauses, wie es New York damals 25 Jahre vor Wertheim schon besass, mit meiner Mutter herumzustreifen und als Krone im "Tearoom" einen Ice-Cream zu essen, erschien mir ein ungeheurer Genuss, von dem ich in späteren Jahren noch oft geträumt habe. Endlich würde ich wohl die riesigen illustrierten Theaterplakate genannt haben, die sich oft Dutzende von Metern weit an den Strassenecken der Stadt erstreckten und die Hauptszenen der gerade bevorzugten Stücke in eindringlichster Weise zum besten gaben. Ich sparte keine Strassenkreuzung, wenn ich sie irgendwo sah. Sobald ich lesen gelernt hatte, kannte ich als kleiner Knirps alle Dialogbruchstücke, die unter solchen Bildern standen, auswendig und amüsierte meinen Vater nicht wenig, wenn ich plötzlich aus "H.M.S.Pinafore", Sullivans erster Riesenerfolgoperette, sang....
...Mein Vater fürchtete sich augenscheinlich nicht davor, uns beiden Jungens mitten in die eigentümlichen Eindrücke zu stellen, welche die neue Welt auf Schritt und Tritt bot, er würde uns wohl sonst beispielsweise nicht mit sechs und sieben Jahren zum Besuch der Weltausstellung in Philadelphia 1876 mitgenommen haben, die mir, so klein ich war, einen unauslöschlichen Eindruck gemacht hat.
Mein Vater hatte viel mit dieser Ausstellung zu tun gehabt: er hatte den grossen Irrtum der deutschen Industrie amerikanischen Verhältnissen gegnüber, den Releaux später mit seinem "Billig und schlecht" festnagelte, vorausgesehen und vielen zum Ärger immer wieder in die Heimat geschrieben: "Wir fangen erst an, von Amerika etwas zu wissen, wenn wir aufhören zu glauben, es bereits zu kennen." Jetzt gab diese Ausstellung die traurige, aber sehr nützliche Bestätigung, und sie mag meinem Vater ein später unentbehrliches Fundament für seinen Überblick über das Verhältnis zwischen Amerika und Europa gewesen sein.
...Dies eigene Heim und den eigentlichen Hintergrund aller Erinnerungen aus diesen siebziger Jahren unseres New Yorker Aufenthalts bildet das Haus 6 West Forty-ninth Street. Es lag sehr vornehm, unmittelbar an der Ecke der Fifth Avenue, und war eines jener hohen, braunen Drei-Fenster-Häuser, wie sie in kaum variierter Gleichheit den Typus dieser besseren Wohnviertel bilden. Lang und schmal dehnt sich das Haus nach hinten; unten ist die Tiefe ausgenutzt zu einem langgetreckten Parlour und einem daranstossenden Ess-zimmer, das aber nur Gesellschaften diente, denn der tägliche Speiseraum liegt im Untergeschoss unmittelbar neben der Küche. In den oberen Geschossen ergibt sich durch die tiefe Form des Grundstücks zwischen den Vorder- und den Hinterzimmern eine dunkle Partie, die ausgenutzt ist zu jenen praktischen begehbaren Kleiderräumen, an denen ein kleiner Gang, in den die Waschtische eingebaut sind, aussen vorrüberführt. Das ganze Anwesen, das einem vornehmen kinderlosen Ehepaar Ludlum gehörte, war nach amerikanischer Art, da die Besitzer auf dem Lande leben wollten, mit allem Inventar wohnfertig vermietet, und so wurde man plötzlich in die Welt versetzt, die ein gebildeter, euro-pakundiger Amerikaner um sich aufgebaut hatte. In allen Zimmern hingen Stiche von berühmten Gemälden, das Portrait Raffaels im Esszimmer interessierte mich besonders, denn im Parlour konnte man Ölgemälde seiner Bilder sehen: die Engel der Sixtina und eine sanfte Madonna aus München in wahrscheinlich recht dürftigen Kopien.
...Im nächsten Jahr erlebten wir eine ähnlich geheimnisvolle Nacht, und von da an trat in [meiner] Schwester Emmy eine liebliche neue Erscheinung in unseren Kreis, von deren anmutvollem Wesen ein leiser Schein durch mein ferneres Leben geht.
Wir drei Ältesten wuchsen anfangs in New York ohne Schule und ohne eigentliche Gespielen auf. Das brachte uns untereinander fraglos besonders nahe. Wir hatten in ganz regellosen Exerzitien, die meine Mutter korrigierte, allmählich Lesen und Schreiben gelernt. Auch das einfachste Rechnen war ueberstanden, ich weiss nicht recht wie, denn irgendwelche Unterweisung, die man Unterricht nennen konte, hatten wir nie genossen. Erst 1878 sollte in der berühmten Schule von Doktor Sachs, die, wie alle besseren Schulen New Yorks, eine Privatanstalt war, System ins Lernen gebracht werden.
...Mein erstes Auftreten erregte, ohne dass ich den Grund ahnte, einiges Aufsehen. Ich bekam ein kleines schwarzes Lesebuch vorgelegt, aus dem ich, während die übrigen etwas anderes taten, ein Stück herauswählen durfte, das ich dann zur Probe vorlesen sollte. Ich wählte einen kleinen Aufsatz: "Christ, the good shepheard", den ich voll überzeugter Betonung fehlerlos vorlas. Aber eine gewisse Unruhe ging trotzdem durch den Raum, und die Lehrer lächelten. Erst viel später wurde mir der Grund dafür klar: wir zwei waren die einzigen Christen in der ganzen Schule, alle Lehrer mit eingeschlossen, und so hatte diese erste Leseprobe aus dem unvorsichtig assortierten Lesebuch wie ein freudiges Bekenntnis gewirkt.
... Weit bessere Kameraden führte uns erst der nächste Sommer zu. Wir hatten die Jahre vorher in Summit und New Brighton köstliche Sommermonate verlebt, sie alle werden verdunkelt durch das Paradies, das sich uns in Cornwall öffnete. Mehrere deutsch Familien hatten hier ein grosses Haus an einem reizvoll waldigen Punkt des Hudson gemietet, das gemeinsam bewirtschaftet wurde; ihnen schlossen sich meine Eltern an.
...Mein Vater wollte in längerer Urlaubszeit einmal wieder die deutschen Verhältnisse sondieren. Mit dazu beigetragen haben mochte die Tatsache, dass ihm während des Aufenthalts in Cornwall von Bremen aus die Stelle eines Senators angetragen war.
Die Seefahrt, die nun folgte, war wundervoll. Nichts zu tun zu haben, ein ganzes Schiffsverdeck als Spielplatz zu besitzen, auf der Kommandobrücke die tägliche Knotenzahl mit feststellen zu dürfen und schon morgens zum Frühstück Buchweizenpfannkuchen zu bekommen, das konnte mir schon gefallen.
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Im Hafen von New York liegt eine anmutige grünbedeckte Insel, Staten Island, die eine Art Villenvorstadt der grossen City bildet und mit einem trefflichen System origineller "Ferryboats" mit ihr verbunden war. Hier, zwischen den Plätzen Tompkinsville und Stapleton hatten Wendts auf der Höhe einen schön gelegenen Besitz mit grossem Garten erworben, und wir nisteten uns für den Sommer 1880 gerade gegenüber in dem Haus eines deutschen Herrn ein.
Von der Terasse unseres Hauses hatten wir einen majestätischen Blick über die weiten Flächen des New Yorker Hafens. Das ganze Getriebe der Schiffe zog weithin verfolgbar stolz an uns vorbei; an der einen Seite glaubte man, bis ins offene Meer zu sehen, die andere schloss die damals schon durch vereinzelte "Skyscraper" phantastisch zerklüftete Silhouette der Stadt mit der wundervollen Linie ihrer riesigen Brooklynbrücke, die mein Vater uns Jungen früh bewundern und lieben lehrte.
...der Winter 1880/81 war eine traurige Zeit voll immerwährender Krankheit. Wir waren zum Herbst in die Stadt gezogen und während eines heiteren Festes, mit dem der Winter beginnen sollte, brachen bei mir die Masern aus. ..Noch am gleichen Abend brach die Krankheit los, und kaum war ihr Kreislauf in der Familie überwunden, da meldeten sich Scharlach und Diphtheritis. Bei mir kam noch ein schwerer Rheumathismus am Herzen hinzu, und die Diphtheritis sass mir oben in der Nase, so dass ich nach damaliger Methode entsetzlich gequält wurde.
Welche Wonne war es dann aber, als solche Qualen verschwanden und man allmählich wieder zum normalen Leben erwachte, als die guten Weingelees der Frendinnen des Hauses kamen, als vorgelesen wurde und eines Tages ein mäch-tiger Fliederstrauss an meinem Bette prangte, den meine liebe, schwergeprüfte Mutter in dem Garten gepflückt hatte, in den wir nun bald zur völligen Erho-lung übersiedeln sollten.
Ich konnte es kaum erwarten, denn das neue Haus lag wieder auf Staten Island, unmittelbar auf der andern Seite des Wendtschen Gartens, und wir hatten es oft bewundert, denn "Eakins Place" war der grösste und schönste Besitz der ganzen Gegend.
Da unsere viele Krankheit auch der Ungesundheit unseres New Yorker Hauses zugeschrieben wurde, war beschlossen, dass wir auch den Winter hier auf dem Lande zubringen sollten. Man siedelte sich also gründlich an, und so öffnete sich ein ganz neues Stück Leben, das wir Jungens uns nicht schöner hätten vor-stellen können. Der Besitz war wundervoll; ein grosses turmgekröntes Haus auf der höchsten Stelle der Insel, so dass die Aussicht noch herrlicher sich entfaltete, als in der vorigen Wohnung, ein Garten, den man richtiger mit Park bezeichnen muss, oben waldartig mit Bäumen bestanden, dann steil den Berg herunter in Wiesen und Anlagen übergehend.
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Mein Vater hat sich, glaube ich, nie über das wilde geistige Wachstum Sorge gemacht. Er sagte sich, was man in diesen Jahren treibt, ist für die Ausbildung des Menschen nicht das Wichtigste, es kommt darauf an, dass man irgend etwas ganz und mit voller Ausdauer betreibt. Und er sah, dass das auf anderem Gebiet bei uns der Fall war. Während wir in der Studierstube völlig versagten, waren wir auf eigene Faust begeisterte Handwerker geworden. Der Trieb zum Basteln, der im vorigen Sommer erwachte, war vor allem dadurch in festere Bahnen geleitet, dass wir im Winter zu Weihnachten eine kleine Druckerpresse geschenkt bekommen hatten. Nach den ersten enttäuschenden Versuchen brachten wir es fertig, auf der kleinen Maschine tadellose Drucke hervorzubringen, und nun erwachte in uns der amerikanische Geist: wir etablierten uns als regelrechtes Geschäft unter der Firma "Schumacher Brothers, Book and Job printers", druckten eigene Geschäftskarten sowie Rechnungformulare, nahmen Aufträge entgegen und wagten uns an die schwierigsten Aufgaben heran. Unsere Auftraggeber fanden wir anfangs im nächsten Freundeskreis, aber da zu diesem Männer gehörten, wie der Direktor der Germania-Lebensversicherungsgesellschaft, so gab das gute Aufträge, und almählich verbreitete sich der Ruf der Firma so, dass wir ständig zu tun hatten.
Mein Vater muss dieses Treiben mit grösstem inneren Behagen verfolgt haben. Er hatte uns diese geschäftliche Entwicklung unter der Bedingung erlaubt, dass wir allen Gewinn nur wieder für die Druckerei und ihre Verbesserung verwenden durften, und das wurde gewissenhaft eingehalten. Im übrigen behandelte er unsere Firma, der sogar eine "Postoffice Box" in der Stadt zur Verfügung stand, mit unerschütterlichem Ernst, und das gleiche geschah von allen Seiten. Wenn ich heute die streng geschäftliche Korrespondenz mit Herrn Wesendonck oder Paul W. Caesar durchblättere, sehe ich gerade aus dem ernsten Tonfall, wie man sich allerseits über die echt amerikanische Frucht am deutschen Stamme amüsierte, die unser Unternehmen darstellte.
Wir merkten von solchen Nebeneindrücken natürlich gar nichts, verfolgten die geschäftlichen Interessen von Schumacher Bros. mit grösster Unbefangenheit und fühlten uns als erwachsene Geschäftsleute. Die ersten Einnahmen verwandten wir zur Herausgabe eines kleinen Buches. Unsere Urgrossmutter Margarethe Ölrichs, später die Gattin des Bürgermeisters H.A.Schumacher, war eine der ersten nach Selbständigkeit ringenden Frauen gewesen. Trotz der erschwerenden Eigenschaft einer Ratsherrntochter hatte sie es mit neunzehn Jahren durch-gesetzt, allein nach Dresden zu ziehen, um dort Malerei zu studieren, und nur die unruhigen Verhältnisse des Jahres 1806 scheuchten sie wieder in die Heimat zurück. Sie war aber zu spät aufgebrochen und geriet auf der Rückreise in Leipzig in die schweren Wirren hinein, die hier durch die Schlacht bei Jena hervorgerufen wurden; nur die gastliche Aufnahme, die der Maler Anton Graff dem unbekannten Mädchen gewährte, beschützte sie vor schlimmeren Erfahrungen. Diese Rückreise hat sie in einem uns erhaltenen Manuskript anspruchslos geschildert, und zu ihrem hundertsten Geburtstag haben wir es damals gedruckt und jedem ihrer zahlreichen Nachkommen als Erinnerung geschenkt.
Das war für unsere kleine Presse eine grosse Leistung, und schon um sechs Uhr morgens wurde im Nachthemd mit dem Setzen begonnen, das uns viele Sorgen machte, wenn der Vorrat einzelner Buchstaben für die Seite nicht ausreichen wollte. Ein besonders schwieriges Geschäft war schlieslich das Heften der fertigen Bändchen, deren farbiger Umschlag unserer besonderer Stolz war. Gar nicht aber wollte das Beschneiden der gehefteten Arbeit gelingen, wir verzwei-felten schliesslich daran und beschlossen, es auswärts machen zu lassen.
Bei den Überlegungen, wen wir wohl mit diesem wichtigen Auftrag beehren könnten, fiel uns "Harpers Institute" besonders ins Auge, da wir die zahl-reichen berühmten Zeitschriften kannten, die von hier ihren Weg nehmen. Wir packten also unsere ganze Auflage in zwei grosse Pakete zusammen, schleppten sie zum Ferryboat, von da auf die Hochbahn und schliesslich in das Riesenhaus des Harperschen Verlages. Hier verlangten wir die Chefs zu sprechen und kamen auch nach etlichen Schwierigkeiten in das Büro eines imponierenden Herrn. Dieser sah uns etwas erstaunt an, liess sich dann unser Druckwerk genau erklären, und nachdem er es verschiedenen anderen Herren gezeigt hatte, wurden die Pakete einen Augenblick unbemerkt hinausgetragen. Während wir noch über unsere Firma weiter berichteten, kamen sie wieder herein, und unsere Seligkeit war gross, als wir sahen, dass sie alle miteinander tadellos beschnitten waren. Noch grösser aber wurde unser freudiges Staunen, als wir mit etwas Herzklopfen nach dem Preise fragten und der imponierende Herr uns sagte, zur Erinnerung an die erste Bekanntschaft zwischen Kollegen bäte er, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Stolz zogen wir von dannen und ahnten nicht, welche ungewohnte Belustigung wir im Ernst eines Riesenbetribes hervorgerufen hatten.
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Unser Haus lag in Winterszeiten ganz einsam inmiten verlassener Güter, abgeschnitten von allen Menschen. Für meinen Vater stand, wenn er spät abends im Dunkeln von New York hereinkam, in Tompkinsville ein Wagen bereit, der ihn herauffuhr und dann nach unten in seinen Stall zurückkehrte. Bei einer solchen Rückfahrt wurde unser Kutscher eines Abends am Tor unseres Gartens von vermummten Männern angehalten und nach allen Verhältnissen in unserem Hause ausgefragt. Es gelang ihm, zu entkommen, und nun konnte er etwas tun, womit die Räuberbande, die es auf uns abgesehen hatte, nicht rechnen konnte: wir gehörten damals zu den ganz wenigen, die ein Telefon besassen. Wir wurden also vom Kutscher telefonisch gewarnt, und nun begannen wir, wie in einer regelrechten Festung uns zu verbarrikadieren. Die Hunde versagten: am Morgen war uns der eine vergiftet worden, den anderen fanden wir betäubt in seinem Stalle. Wir mussten uns also auf uns allein verlassen. Jeder bekam in dem weitläufigen Gebäude seinen Beobachtungsposten, und mein Vater, der einzige Mann im Hause, schoss ab und an mit dem einzigen Revolver zum Fenster heraus. Anderen Tags stellte sich heraus, dass unsere Belagerer, während wir im finsteren Untergeschoss eifrig Wache hielten, versucht hatten, von den hohen Bäumen aus, die am Hause standen, in das hellerleuchtete leere Obergeschoss einzudringen. Triumphierend fand ich den Speck, mit dem man die Fensterscheiben bereits eingerieben hatte, um sie einzudrücken, aber es muss aus irgendeinem Grunde nicht gelungen sein. So ging die Sache glücklich vorüber, stand anderen Tages mitsamt einem Hymnus auf den Nutzen des Telefons in der Zeitung - und am nächten Abend war dieses unser Telefon abgeschnitten. Wir verlebten wieder eine Nacht voller Rüstung, und nun brach bei meiner armen Mutter eine begreifliche Nervosität aus, die uns noch manche folgende Nacht alarmierte und zu schwerbewaffneten Zügen durchs ganze Haus führte. Das wurde auch nicht besser, als mein Vater einen berühmten Detektiv ins Haus nahm, und während die übrigen Hausgenossen von diesem Zustand durchaus nicht erfreut waren, genossen nur wir Jungens ihn aus vollstem Herzen.
...wer weiss, wozu all dies geführt hätte, wenn nicht das Schicksal plötzlich "Eakins-Place" mit all seinen Wundern uns vor der Nase zugeschlossen hätte. Mein Vater wurde mit kurzer Frist aus New York abberufen, und ehe er seine neue Stellung antrat, sollte zuerst ein Besuch in der Heimat den Mut stärken für die neuen Anforderungen, die bevorstanden.
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